Rezension
Berliner Lehrerzeitung - Nr. 02 - Februar 2006

"Stinkehose" von Axel Altenburg

Der Autor erzählt von einer Kindheit im Berlin der 60er Jahre voller Gewalt, Armut, Hilflosigkeit, Misshandlung und Missbrauch, aber auch von dem eigenen Wunsch und den Versuchen, diesem Milieu zu entfliehen.

Wenn ein kleiner Verlag einen Autor mit seinem ersten Roman vorstellt, ist dies immer ein Wagnis. Axel Altenburg hat 2003 beim Erzählwettbewerb des Tagesspiegels mit einer Geschichte gewonnen. Hier kommt sein erster Roman, in dem er die Erfahrungen und Leiden einer Kindheit in Berlin verarbeitet. Diese Kindheit ist geprägt durch Angst und fehlende Liebe. Der Vater ist Bauarbeiter, trinkt, ist mal arbeitslos, mal verdient er gut - wie viele in diesem Beruf damals. Die Mutter ist wie der Vater überfordert durch vier Kinder, die schnell nacheinander gekommen sind.
Die Situationen alltäglicher Angst vor dem prügelnden und versoffenen Vater werden aus der Sicht des Zweitältesten geschildert. Die fehlenden Außenkontakte, die die Familie auf sich selber reduzieren, können von der Großmutter allein nicht aufgefangen werden, auch wenn diese immer wieder versucht schlichtend und helfend einzugreifen, aber gegenüber der Gewalttätigkeit ihres Sohnes und der Hilflosigkeit seiner Frau, ihrer ewigen Bettelei und ihren Lügen resigniert. Auch andere Verwandte stützen partiell, besonders Axel, den Zweitältesten, aber verweigern sich auch, wenn sie sich zu sehr ausgenutzt fühlen.
Altenburg schreibt diese Szenen alltäglicher Gewalt im Präsenz mit starker Nähe zur gesprochenen Sprache, wechselt oft innerhalb eines Absatzes vom Präsens ins Präteritum. Das lässt dem Leser / der Leserin wenig Möglichkeiten der Distanz, wirkt jedoch authentisch.
Worthülsen stehen neben intensiven Angst- und Gewaltschilderungen. Schimpfwörter, Fäkalbegriffe durchziehen das Buch wie den Alltag der Kinder. Was einen immer wieder packt, ist die Schilderung des Missbrauchs dieser Kinder, sei es durch die Schwester und den Arzt im Erholungsheim, sei es durch die Mutter, durch die falschen Freunde der Brüder und vor allem durch die Gewalttätigkeiten des Vaters.
Dabei hält er allein die Familie zusammen. Ein Bauarbeiter in den 60er Jahren konnte in Berlin gut verdienen, und selbst diesem alkoholkranken Vater gelingt es ja, eine hohe Mietschuld abzutragen, die die Familie ins Obdachlosenheim bringt und die Mutter zu einem Selbstmordversuch.
Nur einmal beschreibt der Autor den Vater nicht nur als brutalen Schläger und Gewaltmenschen, sondern als Kranken, der Einsicht in seine Krankheit gewinnt und freiwillig zum Entzug ins Krankenhaus geht.
Die Schilderung des Einzugs in das Obdachlosenheim und des Auszugs aus der verlassenen Wohnung zeigt krass die Überforderung der Kinder. Axels ständige Angst vor der negativen Reaktion der Klassenkameraden, wenn sie erfahren, dass seine Familie jetzt im Obdachlosenheim wohnt, wird durch seine Ausgrenzung aus seinen Spielgruppen bestätigt. Das Schlimmste ist für Axel, als eine engagierte Lehrerin sein Geheimnis verrät und er dem Spott der Klassenkameraden ausgesetzt wird. Erst ein Klassenwechsel, den der Rektor nach einem Gespräch mit Axel veranlasst, verbessert sein Verhältnis zur Schule wieder.
Die Gewalt, die Axel unter den Bewohnern des Obdachlosenheims beobachtet, entspricht der in seiner Familie. Auch unter den Kindern der Umgebung gibt es Prügeleien.
Immer deutlicher hebt der Autor den Erzähler aus seiner Familie heraus. Der Umzug in eine Hauswartswohnung gibt Axel Möglichkeiten, nebenher Geld zu verdienen, das er überwiegend in modische Klamotten, Süßigkeiten und Platten steckt. In der Schule wird er ganz erfolgreich, wird von den neuen Lehrerinnen ermuntert. Damit unterscheidet er sich zunehmend von seinen Brüdern.
Während Axel sich erfolgreich um einen Ausbildungsplatz bemüht, geht der Zerstörungsprozess der Familie unaufhörlich weiter, der durch einen erneuten Umzug in eine Neubauwohnung nur verschärft wird. An dieser Stelle bricht die eher chronologische Schilderung ab. Man erfährt nicht mehr, wie Axel tatsächlich den Absprung schafft.
Das letzte Kapitel trägt den Titel des Buches "Stinkehose" und schildert mit mehr Konzentration als einige der vorherigen Kapitel die Zerstörung der Familie durch Alkoholismus, Gewalt, Missbrauch und Hunger. Die Brutalität der Sprache wird verstärkt, als die Mutter den vier fast erwachsenen Söhnen in drastischer Weise vor Augen und Nase führt, was die Armut für sie bedeutet: eine einzige Hose mit Löchern, die sie beim Husten bepinkelt hat.
Das Buch ist kein Jugendbuch, auch wenn es Kindheit und Jugend in Berlin authentisch schildert. Es ist dagegen sehr geeignet, Menschen, die in sozialen und/oder pädagogischen Berufen arbeiten, mit einer Realität zu konfrontieren, die sich für die meisten außerhalb ihres Erfahrungs- und Kenntnisbereichs befindet, aber in der Kinder und Jugendliche auch heute noch wieder aufwachsen.


Ute Wolters, AG Jugendliteratur und Medien