Rezension
motz - das buch - Ausgabe 02/06

Erstes Weihnachten im Obdachlosenasyl

Das Wohnzimmer ist leer. Die Kinderzimmer sind leer. Die Kinder sind leer. Axel Altenburg schildert in seinem Debütroman "Stinkehose" das Elend seiner Kindheit und Jugend
"Die braune Suppe, die in der Toilette schwimmt, der letzte Rest von gestern, ich drücke die Spülung, auf Wiedersehen. Völlig leer von allem Leben öffne ich die Toilettentür, betrachte das Inferno, wie es weiter seinen Lauf nimmt, gnadenlos, alles Menschliche scheint uns vergessen zu haben." Der da klagt ist Axel. Einen Tag zuvor erlebte Axel den bis dato ungewöhnlichsten Tag in seinem Leben. Und das nicht, weil anstelle der Mutter sein Vater ihn ausnahmsweise am morgen geweckt hatte. Sondern der Anlass des ungewohnten Vorgangs war: Der Familie Altenburg stand aufgrund aufgehäufter Mietschulden die Zwangsräumung bevor. "Ein Möbelpacker greift sich meine Matratze, läuft an mir vorbei und ich kann noch meine Körperwärme spüren, die sich in meinem Bett über Nacht gehalten hat. Draußen auf dem Gehweg, ein Gegaffe aus Fenstern, schauen wir noch mal kurz nach oben, dann geht der Blick nach unten und nichts wie weg hier und in sicherer Entfernung fangen wir wieder an zu heulen, bis wir angekommen sind. Ein Kilometer ohne Zeit." Wir, das sind Vater, Mutter und die Geschwister von Axel. An kommt die Familie vor einem Haus in der General-Pape-Straße in Berlin-Tempelhof. Dem Standort eines Obdachlosenasyls. "Das Haus kannten wir bisher nur von außen, viele kannten es von außen, wenige von innen. Jetzt gehörten wir zu den Wenigen, die es von innen kennen lernen sollten. Die, die schon wissen, wie es von innen ist, erwarten uns mit neugierigen Blicken. Ich höre: die Altenburgs. (...). Ein Mann winkt uns zu, gibt Zeichen, wir sollen zu ihm kommen. (...). Er ist der Hauswart vom Obdachlosenasyl, das erkennen wir sofort, denn erträgt ein dickes Schlüsselbund in der rechten Hand und hat dieselbe Wichtigtuermiene wie alle Hauswarte (...)."
Das passiert nach knapp hundert Seiten in dem Roman "Stinkehose". Der 1958 in Berlin geborene Altenburg erzählt die Geschichte vom Scheitern einer Familie: er wächst auf in einer Arbeiterfamilie. Vier Kinder, der Vater trinkt, die Mutter überfordert. "Es ist eine Welt ohne Nähe, kalt und hungrig, voller Angst und Gewalt. Eine Welt, der Axel entfliehen möchte. Doch das Leben fasst ihn mächtig an. Eine Katastrophe nach der anderen lässt sein Dasein zu einem Drahtseilakt werden", so der Verlag. Der Autor schildert detailliert Kindheitserlebnisse aus dem "Unterschichtenmilieu". Voller Entbehrungen und Gewalt. Vom elenden Leben im Obdachlosenasyl und zurück. Achtzig Seiten später gelingt die Rückkehr aus dem Obdach der 1970er Jahre in eigene vier Wände. Und alles auf Anfang. Ein Buch voll unspektakulärer Poesie. Lesenwert!

Tamara Karstadt