Rezension
Der Tagesspiegel - kurz & kritisch - 14. September 2005

Drei Brüder und Hunger im Magen

Die anderen dürfen es nicht merken. Sie sollen nicht wissen, dass ihr Schulkamerad im Obdachlosenasyl wohnt, dass seine sechsköpfige Familie ihre Tage im "Kinder-Ess-Bade-Spiel-Küchen-Zimmer" verbringt, mit Schlägern und Säufern als Nachbarn und mit einer "Mischung aus allen Körperdüften, die es gibt". Ein halbes Jahr ist die Tarnung erfolgreich, die Mitschüler halten Axel für normal. Doch eines Tages möchte die Lehrerin, frisch aus New York zurückgekehrt und voll des sozialpolitischen Elans, das Thema Armut behandeln und sagt: "Erzähl doch mal, Axel. Du wohnst doch auch in solchen Verhältnissen."
Axel Altenburg hat an jenem Tag in der Schule geschwiegen. Erst jetzt, in seinem autobiographischen Debüt "Stinkehose" (Klingenstein Verlag, Stuttgart 2005, 254 S., 17.90 Euro), beginnt er zu erzählen, wie es ist, in "solchen Verhältnissen" zu leben: aufzuwachsen im Berlin der Sechziger- und Siebzigerjahre mit einem prügelnden, oft besoffenen Vater, einer überforderten Mutter, die alle Bekannten um Geld anpumpt, mit drei Brüdern und Hunger im Magen. Dabei herausgekommen ist ein beklemmendes und fesselndes Buch, außergewöhnlich deshalb, weil es die Innenansicht eines Milieus bietet, das viele nur von ferne oder aus der Zeitung kennen. Altenburg, einer der Preisträger des Tagesspiegel-Erzählwettbewerbs 2003, schreibt einfach, klar, unsentimental. Sein Buch wirkt durchweg authentisch - auch in dem zwischen den Zeilen durchklingenden Stolz, sich selbst mit einer Einzelhändlerlehre hochgearbeitet zu haben, raus aus diesem zermürbenden, über riechenden und verrohenden Zustand, der Armut heißt.

Dorothee Nolte